MarienkindSeite 4 / 5
Nach einem Jahr gebar die Königin wieder einen Sohn. In der Nacht trat auch wieder die Jungfrau Maria zu ihr herein und sprach: “Willst du gestehen, daß du die verbotene Türe geöffnet hast, so will ich dir dein Kind wiedergeben und deine Zunge lösen: verharrst du aber in der Sünde und leugnest, so nehme ich auch dieses neugeborne mit mir.” Da sprach die Königin wiederum: “Nein, ich habe die verbotene Tür nicht geöffnet,” und die Jungfrau nahm ihr das Kind aus den Armen weg und mit sich in den Himmel. Am Morgen, als das Kind abermals verschwunden war, sagten die Leute ganz laut, die Königin hätte es verschlungen, und des Königs Räte verlangten, daß sie sollte gerichtet werden. Der König aber hatte sie so lieb, daß er es nicht glauben wollte, und befahl den Räten bei Leibes- und Lebensstrafe, nicht mehr darüber zu sprechen.
Im nächsten Jahr gebar die Königin ein schönes Töchterlein, da erschien ihr zum drittenmal nachts die Jungfrau Maria und sprach: “Folge mir.” Sie nahm sie bei der Hand und führte sie in den Himmel, und zeigte ihr da ihre beiden ältesten Kinder, die lachten sie an und spielten mit der Weltkugel. Als sich die Königin darüber freute, sprach die Jungfrau Maria: “Ist dein Herz noch nicht erweicht? wenn du eingestehst, daß du die verbotene Tür geöffnet hast, so will ich dir deine beiden Söhnlein zurückgeben.” Aber die Königin antwortete zum drittenmal: “Nein, ich habe die verbotene Tür nicht geöffnet.” Da ließ sie die Jungfrau wieder zur Erde hinabsinken und nahm ihr auch das dritte Kind.
Am andern Morgen, als es ruchbar ward, riefen alle Leute laut: “Die Königin ist eine Menschenfresserin, sie muß verurteilt werden,” und der König konnte seine Räte nicht mehr zurückweisen. Es ward ein Gericht über sie gehalten, und weil sie nicht antworten und sich nicht verteidigen konnte, ward sie verurteilt, auf dem Scheiterhaufen zu sterben. Das Holz wurde zusammengetragen, und als sie an einen Pfahl festgebunden war und das Feuer ringsumher zu brennen anfing, da schmolz das harte Eis des Stolzes und ihr Herz ward von Reue bewegt, und sie dachte: “könnt ich nur noch vor meinem Tode gestehen, daß ich die Tür geöffnet habe,” da kam ihr die Stimme, daß sie laut ausrief: “Ja, Maria, ich habe es getan!” Und alsbald fing der Himmel an zu regnen und löschte die Feuerflammen, und über ihr brach ein Licht hervor, und die Jungfrau Maria kam herab und hatte die beiden Söhnlein zu ihren Seiten und das neugeborene Töchterlein auf dem Arm. Sie sprach freundlich zu ihr: “Wer seine Sünde bereut und eingesteht, dem ist sie vergeben,” und reichte ihr die drei Kinder, löste ihr die Zunge und gab ihr Glück für das ganze Leben.