Die kleine SeejungfrauSeite 2 / 24
Der Meerkönig dort unten war seit vielen Jahren Witwer gewesen, während seine alte Mutter bei ihm wirtschaftete. Sie war eine kluge Frau, aber stolz auf ihren Adel, deshalb trug sie zwölf Austern auf dem Schwanze, die anderen Vornehmen durften nur sechs tragen. – Sonst verdiente sie großes Lob, besonders weil sie viel von den kleinen Meerprinzessinnen, ihren Enkelinnen, hielt. Es waren sechs schöne Kinder, aber die jüngste war die schönste von allen, ihre Haut war so klar und fein wie ein Rosenblatt, ihre Augen so blau wie die tiefste See, aber wie all' die andern hatte sie keine Füße, ihr Körper endete in einen Fischschwanz.
Den ganzen Tag konnten sie unten im Schlosse, in den großen Sälen, wo lebendige Blumen aus den Wänden hervorwuchsen, spielen. Die großen Bernsteinfenster wurden aufgemacht, und dann schwammen die Fische zu ihnen herein, wie bei uns die Schwalben hereinfliegen, wenn wir die Fenster aufmachen. Doch die Fische schwammen gerade zu den Prinzessinen hin, fraßen aus ihren Händen und ließen sich streicheln.
Draußen vor dem Schlosse war ein großer Garten mit feuerroten und dunkelblauen Bäumen; die Früchte strahlten wie Gold, und die Blumen wie brennendes Feuer, indem sie fortwährend Stengel und Blätter bewegten. Die Erde selbst war der feinste Sand, aber blau, wie die Schwefelflamme. Über dem Ganzen lag ein eigentümlich blauer Schein, man hätte eher glauben mögen, daß man hoch in der Luft stehe und nur Himmel über und unter sich habe, als daß man auf dem Grund des Meeres sei. Während der Windstille konnte man die Sonne erblicken, sie erschien wie eine Purpurblume, aus deren Kelch alles Licht ausströmte.
Eine jede der kleinen Prinzessinnen hatte ihren kleinen Fleck im Garten, wo sie graben und pflanzen konnte, wie es ihr gefiel. Die eine gab ihrem Blumenfleck die Gestalt eines Walfisches, einer andern gefiel es besser, daß der ihrige einem kleinen Meerweib gleiche, aber die jüngste machte den ihrigen ganz rund, der Sonne gleich, und hatte nur Blumen, die rot wie diese schienen. Sie war ein wunderbares Kind, still und nachdenkend, und wenn die andern Schwestern mit den seltsamen Sachen, welche sie von gestrandeten Schiffen erhalten hatten, Staat machten, wollte sie nur außer den rosenroten Blumen, die der Sonne dort oben glichen, ein hübsches Marmorbild haben; es war ein herrlicher Knabe, aus weißem, klaren Stein gehauen, der beim Stranden auf den Meeresgrund gekommen war. Sie pflanzte bei dem Bilde eine rosenrote Trauerwinde, die wuchs herrlich und hing mit ihren frischen Zweigen über denselben hinweg, gegen den blauen Sandboden hinunter, wo der Schatten sich bläulich zeigte und gleich den Zweigen in Bewegung war; es sah aus, als ob die Spitze und die Wurzeln mit einander spielten, als wollten sie sich küssen.