Die kleine SeejungfrauSeite 16 / 24
»Da hast Du ihn!« sagte die Hexe und schnitt der kleinen Seejungfrau die Zunge ab, die nun stumm war, weder singen noch sprechen konnte.
»Sollten die Polypen Dich ergreifen, wenn Du durch meinen Wald zurückkehrst,« sagte die Hexe, »so wirf nur einen einzigen Tropfen dieses Getränkes auf sie, davon zerspringen ihre Arme und Finger in tausend Stücke!« Aber das brauchte die kleine Seejungfrau nicht zu thun, die Polypen zogen sich erschrocken von ihr zurück, als sie den glänzenden Trank erblickten, der in ihrer Hand leuchtete, als sei es ein funkelnder Stern. So kam sie schnell durch den Wald, den Moor und die brausenden Strudel.
Sie konnte ihres Vaters Schloß sehen, die Fackeln waren in dem großen Tanzsaal erloschen; sie schliefen sicher alle darin, aber sie wagte doch nicht, sie aufzusuchen, nun, da sie stumm war und sie auf immer verlassen wollte. Es war, als ob ihr Herz vor Trauer zerspringen sollte. Sie schlich in den Garten, nahm eine Blume von jedem Blumenbeet ihrer Schwestern, warf tausende von Kußfingern dem Schlosse zu und stieg durch die dunkelblaue See hinauf.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als sie des Prinzen Schloß erblickte und die prächtige Marmortreppe hinanstieg. Der Mond schien herrlich klar. Die kleine Seejungfrau trank den brennenden, scharfen Trank, und es war, als ginge ein zweischneidig Schwert durch ihren feinen Körper, sie fiel dabei in Ohnmacht und lag wie tot da. Als die Sonne über die See schien, erwachte sie und fühlte einen schneiden den Schmerz, aber vor ihr stand der schöne junge Prinz und heftete seine kohlschwarzen Augen auf sie, sodaß sie die ihrigen niederschlug. Da sah sie, daß ihr Fischschwanz fort war, und daß sie die niedlichsten, kleinen weißen Beine hatte, die nur ein Mädchen haben kann; aber sie war ganz nackt, deshalb hüllte sie sich in ihr großes, langes Haar ein. Der Prinz fragte, wer sie sei, und wie sie dahin gekommen sei, und sie sah ihn milde und doch betrübt mit ihren dunkelblauen Augen an, sprechen konnte sie ja nicht. Da nahm er sie bei der Hand und führte sie in das Schloß hinein. Bei jedem Schritt, den sie that, war ihr, wie die Hexe vorausgesagt hatte, als träte sie auf spitze Nadeln und scharfe Messer, aber das ertrug sie gern; an des Prinzen Hand stieg sie so leicht wie eine Seifenblase, und er sowie alle wunderten sich über ihren lieblichen, schwebenden Gang.