Die kleine SeejungfrauSeite 23 / 24
»Zu wem komme ich?« fragte sie, und ihre Stimme klang wie die der andern Wesen, so geistig, daß keine irdische Musik sie wiederzugeben vermag.
»Zu den Töchtern der Luft!« erwiderten die andern. »Die Seejungfrau hat keine unsterbliche Seele, kann sie nie erhalten, wenn sie nicht eines Menschen Liebe gewinnt; von einer fremden Macht hängt ihr ewiges Dasein ab. Die Töchter der Luft haben auch keine ewige Seele, aber sie können durch gute Handlungen sich selbst eine schaffen. Wir fliegen nach den warmen Ländern, wo die schwüle Pestluft den Menschen tötet; dort fächeln wir Kühlung. Wir breiten den Duft der Blumen durch die Luft aus und senden Erquickung und Heilung. Wenn wir dreihundert Jahre lang gestrebt haben, alles Gute, was wir vermögen, zu vollbringen, so erhalten wir eine unsterbliche Seele und nehmen teil an dem ewigen Glücke der Menschen. Du arme, kleine Seejungfrau hast mit ganzem Herzen nach demselben, wie wir gestrebt, Du hast gelitten und geduldet, Dich zur Luftgeisterwelt erhoben, nun kannst Du Dir selbst, durch gute Werke nach drei Jahrhunderten eine unsterbliche Seele schaffen.«
Die kleine Seejungfrau erhob ihre verklärten Arme gegen Gottes Sonne, und zum erstenmal fühlte sie Thränen in ihren Augen. – Auf dem Schiffe war wieder Lärm und Leben, sie sah den Prinzen mit seiner schönen Braut nach ihr suchen; wehmütig starrten sie den perlenden Schaum an, als ob sie wüßten, daß sie sich in die Fluten gestürzt habe. Unsichtbar küßte sie die Stirn der Braut, lächelte ihn an, und stieg mit den übrigen Kindern der Luft auf die rosenrote Wolke hinauf, welche den Äther durchschiffte.
»Nach dreihundert Jahren schweben wir so in das Reich Gottes hinein!«
»Auch können wir noch früher dahin gelangen!« flüsterte eine Tochter der Luft. »Unsichtbar schweben wir in die Häuser der Menschen hinein, wo Kinder sind, und für jeden Tag, an dem wir ein gutes Kind finden, welches seinen Eltern Freude bereitet und deren Liebe verdient, verkürzt Gott unsere Prüfungszeit. Das Kind weiß nicht, wann wir durch die Stube fliegen, und müssen wir aus Freude über dasselbe lächeln, so wird ein Jahr von den dreihundert abgerechnet, aber sehen wir ein unartiges und böses Kind, so müssen wir Thränen der Trauer vergießen, und jede Thräne legt unserer Prüfungszeit einen Tag zu!«