Das RotkäppchenSeite 4 / 5
»Aber Großmutter, was hast du für lange Arme?«
»Daß ich dich besser umarmen kann.«
»Aber Großmutter, was hast du für lange Ohren?«
»Daß ich dich besser hören kann.«
»Aber Großmutter, was hast du für große Augen?«
»Daß ich dich besser sehen kann.«
»Aber Großmutter, was hast du für ein entsetzliches Maul?«
»Daß ich dich besser fressen kann.«
Und wie er das sagte, fraß er sie auf.
Aber das wäre eine ganz traurige Geschichte, wenn sie so enden sollte, und da gäbe es ja gar keine Gerechtigkeit auf Erden, wenn die Wölfe die Rotkäppchen so ungestraft fressen könnten. Gerechtigkeit muß sein. Und so war es. Der Wolf schlief ein, als hätte er das beste Gewissen, denn sein Grundsatz war:
Ein guter Bissen
ist das beste Ruhekissen –
und schnarchte, daß der Wald davon widerhallte. Dieses Schnarchen war sein Verderben. Der Jäger hörte es und kam herbei, ohne zu wissen, daß er in diesem Moment die göttliche Gerechtigkeit vorstellte, wie es überhaupt wenige Menschen wissen, was sie vorstellen. Erst glaubte er, es sei die alte Frau, die so schnarchte. Wie er aber sah, daß es der Wolf war, sagte er sich gleich, daß er gewiß etwas im Leibe habe, zog leise sein großes Messer hervor und schnitt ihm den Bauch auf. Da sprang nicht nur das Rotkäppchen, sondern auch die Großmutter heraus.
Der Wolf, dem nichts so unangenehm war wie ein leerer Bauch, erwachte und machte große Augen, als er die Großmutter und Rotkäppchen vor sich stehen sah. Er war sehr empört, daß man es wagte, ihm wieder zu nehmen, worauf er sich mit seinen Zähnen ein Recht erworben. Er wollte eben seine Stimme erheben, um sich zu widersetzen und sein Recht zu wahren, als ihn der Jäger niederschoß. »Denn«, sagte der Jäger, »das Laster muß am Ende bestraft werden, anders geht es nicht.«