Der kleine DäumlingSeite 2 / 10
Der kleine Däumling war klug, klüger als alle seine Brüder, sprach wenig und hörte und merkte viel. Da kam eine große Hungersnot ins Land. Die armen Leute hatten kein Brot für die vielen Kinder. Und weil sie die Kinder nicht mit eigenen Augen vor Hunger sterben sehen wollten, dachten sie daran, sich ihrer auf gute Weise zu entledigen, denn »Not kennt kein Gebot«, sagt ein anderes Sprichwort. Abends, als die Kinder schon zu Bette waren, sagte der Mann zu der Frau: »Du siehst, es geht nicht länger. Wir werden die Kinder in den Wald führen und sie dort verlieren.«
»In den Wald«, rief die Mutter erschrocken, »in den düstern, düstern Wald! Ach, meine armen Kinder!« So schrie und weinte sie noch lange und wollte die Kinder nicht in den düstern, düstern Wald führen und sie dort verlieren. Aber am Ende begriff sie doch, daß sie das Elend nicht länger mit ansehen konnte, und als eine gehorsame und brave Frau, die sie war, sagte sie, daß sie tun wolle, wie ihr Mann befehle. Und darauf gingen sie schlafen.
Aber der kleine Däumling hatte alles gehört. Wie er merkte, daß Vater und Mutter Geheimnisse besprachen, kroch er leise, leise aus dem Bette und unter den Schemel seines Vaters, und da hat er alles gehört. In den Wald gehen, in den düstern, düstern Wald, dachte der kleine Däumling, und uns dort verlieren? Nein! – Er legte sich aufs Ohr, dachte nach und stand früh am Morgen wieder auf. Er ging hinaus an den Bach und füllte sich die Taschen mit kleinen weißen Kieselsteinen. Jetzt wollen wir mal sehen, dachte er und klopfte stolz auf die Tasche, als wären darin lauter Louisdore, die er sein Lebtag nicht gesehen hatte.
Dann ging's in den Wald, der Vater mit der Axt auf der Schulter voran, die Mutter nach, dann die sieben Buben hintereinander wie die Orgelpfeifen. Der kleine Däumling, der zuletzt ging, sagte nichts, gar nichts sagte er, aber er dachte sich sein Teil. Und wie sie in den Wald kamen, darin es wirklich düster, sehr düster, ja so dunkel war, daß man kaum seinen Vordermann sah, ließ er nach und nach und ohne daß es jemand merkte, die Steinchen fallen und säte sie so den ganzen Weg entlang. Gute Saat, dachte er, trägt gute Früchte. Und wie sie tief, tief drin im Walde waren, sagte der Vater: »Jetzt, Buben, sammelt trockenes Holz, machet Reisigbündel und seid recht fleißig.« Sie gehorchten, bückten sich alle und waren emsig bei der Suche. Vater und Mutter machten sich eine Ausrede, schlichen in die Gebüsche, und da sie die Kinder nicht mehr sehen konnten, fingen sie an zu laufen und liefen immer, bis sie zu Hause waren. Als die Kinder merkten, daß sie allein und verlassen waren in dem tiefen, tiefen Wald, fingen sie gewaltig an zu schreien und zu weinen. Der kleine Däumling schrie und weinte nicht und sagte auch nichts. Er saß auf einem abgesägten Baumstamm, steckte die Hände in die Hosentaschen und dachte: Weint ihr euch nur recht aus!