Die wilden SchwäneSeite 4 / 16
Die ganze Nacht träumte sie von ihren Brüdern. Sie spielten wieder als Kinder, schrieben mit dem Diamantgriffel auf die Goldtafel und betrachteten das herrliche Bilderbuch, welches das halbe Reich gekostet hatte. Aber auf die Tafel schrieben sie nicht, wie früher, Nullen und Striche, sondern die mutigen Taten, die sie vollführt, alles, was sie erlebt und gesehen hatten. Und im Bilderbuch war alles lebendig, die Vögel sangen, und die Menschen gingen aus dem Buch heraus und sprachen mit Elisa und ihren Brüdern. Aber wenn diese das Blatt umwendeten, sprangen sie gleich wieder zurück, damit keine Unordnung hineinkomme.
Als sie erwachte, stand die Sonne schon hoch. Sie konnte sie freilich nicht sehen, die hohen Bäume breiteten ihre Zweige dicht und fest über sie aus. Aber die Strahlen spielten dort oben gerade wie ein wehender Goldflor. Da war ein Duft von Grünem, und die Vögel setzten sich fast auf ihre Schultern. Sie hörte Wasser plätschern. Das waren viele große Quellen, die alle in einen See ausliefen, in dem der herrlichste Sandhoden war. Freilich wuchsen dort dichte Büsche ringsumher, aber an einer Stelle hatten die Hirsche eine große Lichtung gemacht, und hier ging Elisa zum Wasser hin. Dies war so klar, daß man, wenn der Wind nicht die Zweige und Büsche berührte, so daß sie sich bewegten, hätte glauben können, sie seine auf dem Boden abgemalt, so deutlich spiegelte sich dort jedes Blatt, sowohl das, welches von der Sonne beschienen, als das, welches im Schatten war.
Sobald Elisa ihr eigenes Gesicht erblickte, erschrak sie, so braun und häßlich war es. Doch als sie ihre kleine Hand benetzte und Augen und Stirne rieb, glänzte die weiße Haut wieder vor. Da entkleidete sie sich und ging in das frische Wasser hinein. Ein schöneres Königskind, als sie war, wurde in dieser Welt nicht gefunden.
Als sie sich wieder angekleidet und ihr langes Haar geflochten hatte, ging sie zur sprudelnden Quelle, trank aus der hohlen Hand und wanderte tief in den Wald hinein, ohne selbst zu wissen, wohin. Sie dachte an ihre Brüder, dachte an den lieben Gott, der sie sicher nicht verlassen würde. Gott ließ die wilden Waldäpfel wachsen, um die Hungrigen zu sättigen. Er zeigte ihr einen solchen Raum, die Zweige bogen sich unter der Last der Früchte. Hier hielt sie ihre Mittagsmahlzeit, setzte Stützen unter die Zweige und ging dann in den dunkelsten Teil des Waldes hinein. Da war es so still, daß sie ihre eigenen Fußtritte hörte sowie jedes kleinste vertrocknete Blatt, welches sich unter ihrem Fuße bog. Nicht ein Vogel war da zu sehen, nicht ein Sonnenstrahl konnte durch die großen, dunklen Baumzweige dringen. Die hohen Stämme standen so nahe beisammen, daß es, wenn sie vor sich in sah, ganz so schien, als ob ein Balkengitter dicht beim andern sie umschlösse. Oh, hier war eine Einsamkeit, wie sie solche früher nie gekannt!