Die wilden SchwäneSeite 6 / 16
Als die Sonne unterzugehen im Begriff war, sah Elisa elf wilde Schwäne mit Goldkronen auf dem Kopf dem Lande zufliegen. Sie schwebten einer hinter dem anderen, es sah aus wie ein langes, weißes Band. Da stieg Elisa den Abhang hinauf und verbarg sich hinter einem Busch. Die Schwäne ließen sich nahe bei ihr nieder und schlugen mit ihren großen, weißen Schwingen.
Sobald die Sonne hinter dem Wasser war, fielen plötzlich die Schwanengefieder, und elf schöne Prinzen, ihre Brüder, standen da. Sie stieß einen lauten Schrei aus; obwohl sie sich sehr verändert hatte, wußte sie doch, daß sie es waren, fühlte sie, daß sie es sein müßten. Und sie sprang in ihre Arme und nannte sie bei Namen. Und die Prinzen fühlten sich so glücklich, als sie ihre kleine Schwester sahen, und erkannten sie, die nun groß und schön war. Sie lachten und weinten, und bald hatten sie verstanden, wie böse ihre Stiefmutter gegen sie alle gewesen war.
“Wir Brüder”, sagte der älteste, “fliegen als wilde Schwäne, solange die Sonne am Himmel steht; sobald sie untergegangen ist, erhalten wir unsere menschliche Gestalt wieder. Deshalb müssen wir immer aufpassen, beim Sonnenuntergang eine Ruhestätte für die Füße zu haben, denn fliegen wir um diese Zeit gegen die Wolken empor, so müssen wir als Menschen in die Tiefe hinunterstürzen. Hier wohnen wir nicht; es liegt ein ebenso schönes Land wie dieses jenseits der See. Aber der Weg dahin ist weit. Wir müssen über das große Meer, und es findet sich keine Insel auf unserm Wege, wo wir übernachten könnten; nur eine einsame, kleine Klippe ragt in der Mitte hervor, sie ist nicht größer, als daß wir dicht nebeneinander darauf ruhen können. Ist die See stark bewegt, so spritzt das Wasser hoch über uns; aber doch danken wir Gott für sie. Da übernachten wir in unserer Menschengestalt; ohne diese könnten wir nie unser liebes Vaterland besuchen, denn zwei der längsten Tage des Jahres brauchen wir für unseren Flug. Nur einmal im Jahr ist es uns vergönnt, unsere Heimat zu besuchen. Elf Tage dürfen wir hier bleiben und über den großen Wald hinfliegen, von wo wir das Schloß, in dem wir geboren wurden und wo unser Vater wohnt, erblicken und den hohen Kirchturm sehen können, wo die Mutter begraben ist. Hier kommt es uns vor, als seien Bäume und Büsche mit uns verwandt; hier laufen die wilden Pferde über die Steppen hin, wie wir es in unserer Kindheit gesehen; hier singt der Kohlenbrenner die alten Lieder, nach denen wir als Kinder tanzten; hier ist unser Vaterland; hierher fühlen wir uns gezogen, und hier haben wir dich, du liebe, kleine Schwester, gefunden! Zwei Tage können wir noch hier bleiben, dann müssen wir fort über das Meer, nach einem herrlichen Land, welches aber nicht unser Vaterland ist! Wie bringen wir dich fort? Wir haben weder Schiff noch Boot!”