DornröschenSeite 3 / 10
Der König glaubte mit Verboten und Drohungen alles durchsetzen zu können. Und um das Unglück zu verhüten, erließ er ein Verbot, welches alles Spinnen und jede Hantierung mit Spindeln im ganzen Reiche aufs strengste untersagte und Verbannung und Verbrennung sämtlicher Spindeln anordnete. Und sobald das Gesetz ergangen war, verließ sich der König auf seine Beamten und war ganz ruhig.
Als die Prinzessin fünfzehn Jahre alt war, machte der König mit seiner Königin eine Reise, und die Prinzessin, die nun von ihrer Dienerschaft weniger bewacht wurde, benützte ihre Freiheit, um sich im Schlosse näher umzusehen. Sie lief treppauf, treppab, durch Stuben und Kammern und kam zuletzt in einen alten Turm. Sie stieg die Wendeltreppe hinauf und gelangte hoch oben in ein kleines Gemach. Da saß eine gute alte Frau und spann emsig ihren Flachs.
»Gute alte Frau«, fragte die Prinzessin verwundert, »was machst du da?«
»Ich spinne meinen Flachs!«
»Und was ist das für ein Ding, das da so lustig tanzt und springt und sich dreht wie im Tanze?« fragte die Prinzessin und griff nach der Spindel. Kaum hatte sie die Spindel berührt, so stach sie sich, fiel hin und sank in einen tiefen, tiefen Schlaf.
Und in demselben Augenblicke schlief mit ihr alles ein, was im Schlosse war, die Kammerherren, die Hofdamen, die Möpse, die Jagdhunde, die Leibkatzen, die Kammermädchen, die Hofmusizi, die Pferde im Stalle, die Schwalbe im Neste, die Nachtigall im Busche, die Taube auf dem Dache, die Pagen, die Türsteher, die Hundejungen, die Läufer, die Köche und Küchenjungen, die Beschließerin, das Feuer auf dem Herde, das Wasser am Rohrbrunnen und im Springbrunnen, selbst Blumen, Büsche und Bäume und selbst der Wind, der eben über das Schloß wehte, alles in der Stellung und Lage, die es eben hatte, als die Prinzessin in Schlaf sank. Rings um das Schloß aber begann es zu sprossen, zu wachsen und zu treiben, und bald war es von einer dichten, undurchdringlichen Dornhecke umgeben. Und um die Dornhecke wiederum wuchs ein gewaltiger, so hoher Wald, daß kaum die Turmspitzen des Schlosses, und diese auch nur aus weiter Ferne, sichtbar blieben. Und Bäume, Sträucher, Dornhecken und Schlingpflanzen aller Art woben und schlangen sich so ineinander, daß in das Schloß gar nicht zu gelangen war und daß man es im Lande nach und nach ganz vergaß.