DornröschenSeite 4 / 10
Nur die Sage erzählte noch, daß hinter der Hecke ein wunderschönes Schloß stehe und daß in dem Schlosse eine wunderschöne Prinzessin schlafe, und diese Prinzessin nannte man nach der Dornhecke, die ihren Schlaf beschützte, das Dornröschen.
Die Sage von dem wunderschönen Schloß und der wunderschönen Königstochter lockte viele tapfere Königssöhne herbei, welche den besten Willen hatten, in das Schloß zu dringen und Dornröschen zu erlösen. Aber sie blieben in der Dornhecke hängen, zappelten sich vergebens ab und starben eines jämmerlichen Todes. Der Weg zum Glücke ist immer ein dorniger und voll von Hindernissen, und noch dorniger und reicher an Hindernissen ist der Weg zur Schönheit, welche erlöst werden, die Augen aufschlagen und die Welt mit ihrem Lächeln und Blick erheitern soll. Jeder hat Lust zu einer solchen Erlösung, aber wenige haben die Kraft, und am Ende nützt alle Kraft nichts, wenn nicht die rechte Stunde gekommen und zur rechten Stunde der rechte Mann.
Der rechte Mann aber war ein Königssohn, der gerade hundert Jahre, nachdem Dornröschen eingeschlafen war, in die Gegend kam, angeblich der Jagd wegen, in der Tat aber, weil er gehört hatte, daß hier eine große Schönheit zu erlösen und ein herrliches Reich voll Schönheit zu gewinnen sei. Der Wald sah erschrecklich aus, und noch erschrecklicher war, was man ihm erzählte: von den unzähligen Königssöhnen, die in den Dornhecken wie in Schlingen hängengeblieben und sich zu Tode gezappelt; von den bösen Geistern, die in dem Schlosse umgehen und jeden Eindringling zerreißen sollten; von einem bösen Riesen, der es bewohne und Kinder und Erwachsene fresse. Aber all das konnte den tapfern Königssohn, der sich für berufen und auserwählt hielt und eine unendliche Sehnsucht nach dem Dornröschen empfand, nicht abhalten.
Lieber sterben, dachte er, als sein Ideal nicht erreichen. Er tat, was in solchen Fällen am zweckmäßigsten ist, er ging darauflos. Und siehe da, die fürchterlichen Hecken, die alten Bäume, das Gestrüpp, die dornigen Wände, alles öffnete sich ihm wie weite Flügeltüren, die dienstfertige Bediente vor ihm aufgestoßen hätten. Auffallend war, daß die Hecken und Gesträuche sich gleich hinter ihm schlossen und nur ihn, ihn allein, durchließen, während sie vor den Nasen seiner Leute, die ihm folgten, wieder zusammenschlugen, als ob sie sagen wollten: Da könnte jeder kommen! Neu ermutigt schritt er weiter, wohl fühlend, daß er vor den andern etwas voraushatte und daß ihn eine geheimnisvolle Macht begünstigte.