DornröschenSeite 9 / 10
Bis dahin ging alles gut. Aber eines Tages sagte die Königin zum Haushofmeister: »Ich will die Königin selber fressen, und zwar in derselben Sauce wie die Kinder.« Jetzt war guter Rat teuer. Die hundert Jahre, die sie verschlafen hatte, nicht mitgerechnet, war Dornröschen jetzt über zwanzig Jahre alt und ganz ausgewachsen. Wo in aller Welt ein Tier hernehmen, das man an ihrer Statt der Königin vorsetzen könnte? In aller Verzweiflung und um sich selbst das Leben zu retten, beschloß er zu tun, wie die alte Königin befohlen, und die junge abzuschlachten. Er redete sich in eine arge Wut hinein, und sehr wütend und mit dem Messer in der Hand brach er in die Stube der jungen Königin und sagte ihr, ohne dabei die schuldige Ehrfurcht außer acht zu lassen, welchen Befehl er von der Königinmutter erhalten. Er meinte, sie werde sich sträuben, schreien und ihn ausschimpfen und ihm so die Sache erleichtern, indem sie ihn noch mehr wütend machen würde.
Dornröschen aber sagte gelassen, sanft und traurig: »Tut, was Eures Amtes ist«, und dabei streckte sie ihr schönes weißes Hälschen hin, »vollstrecket die erhaltenen Befehle. Ich folge gern meinen armen Kindern, die ich so sehr geliebt habe.«
Sie glaubte nämlich, die Kinder seien tot, seit man sie ihr entführt hatte.
»Nein! Nein!« rief der arme Haushofmeister außer sich vor Rührung, »nein, Ihr sollt nicht sterben, und Eure Kinder sollt Ihr auch wieder haben, denn ich habe sie versteckt, und die Alte soll statt Eurer ein Reh zu fressen bekommen!«
Sofort brachte er sie zu ihren Kindern, überließ sie ihrem Glücke und eilte, ein Reh herzurichten, das die alte Königin mit demselben Appetit verspeiste, als ob es das appetitliche Dornröschen selbst gewesen wäre. Nun alle ihre Gelüste gestillt und keine Morgenröte, kein heller Tag, kein Dornröschen mehr zu haben waren, fühlte sie sich befriedigt und ohne Furcht vor dem König, dem sie weismachen wollte, die hungrigen Wölfe hätten sein Weib und seine Kinder gefressen.