Der kleine DäumlingSeite 5 / 10
Eine gute Frau kam heraus und fragte, wer sie seien und was sie wollten?
»Hungrige, durchnäßte, müde, im Walde verirrte arme Kinder sind wir«, antwortete der Däumling, »und möchten um Gottes willen um ein Stück Brot und ein Nachtlager gebeten haben, ohne jemand genieren zu wollen.«
»Ach ihr armen, guten Kindlein«, rief die Frau und fing zu weinen an, »wißt ihr denn auch, wohin ihr geraten seid? In diesem Hause wohnt ein Riese, der die Kinder frißt.«
Da fingen sie alle an vor Angst zu zittern, auch der Däumling, doch sagte er: »Es ist gewiß nicht schön, Kinder zu fressen, noch weniger schön ist es, gefressen zu werden, und zwar als Kind. Aber was ist zu tun? Draußen ist's finster und sind die Wölfe, so gehen wir doch lieber ins Haus. Vielleicht gelingt es dir, gute Frau, das Herz deines Gatten zu rühren, vielleicht hat er eben keinen Appetit. Auch sind wir so mager, und ich bin so klein. Man muß es wagen und sehen, wie es weitergeht. Gewöhnlich werden doch nur die gefressen, die sich fressen lassen.«
Die gute Frau ließ sich überreden, hoffend, die Kleinen während der einen Nacht vor dem Riesen verbergen zu können. Sie führte sie in die Stube und setzte sie ans Feuer, wo ein ganzer Hammel am Spieße stak, daß sie sich wärmen und trocknen sollten. Aber kaum hatten sie sich's ein wenig gemütlich gemacht, als sich draußen schwere Schritte und an der Türe ein furchtbares Gepolter hören ließen.
»Da kommt der Riese, mein Mann!« rief die Frau erschrocken und schob rasch die Kinder unters Bett. Der Riese fragte sogleich, ob das Nachtessen fertig, ob genug Wein abgezapft sei, und lauter solche Fragen. Er setzte sich an den Tisch und verzehrte den Hammel, der noch ganz blutig war. Der kleine Däumling, der ihn von unter dem Bette aus beobachtete, dachte: Nun, der kann essen! Für den ist ein Mann wie ich nur ein Bissen. Aber wenn er mich frißt, so soll er mich wenigstens nicht verdauen.